Marseille 2021

Durch einen Klick auf eines der (animierten) Bilder landet ihr in der Bildergalerie, wo ihr diese und noch mehr Bilder in etwas besserer Auflösung sehen könnt. Hervorgehobene Textpassagen führen euch zu externen Inhalten, die oftmals interessant und hilfreich zum Verständnis sein können.

Griechen + Kelten = Massalia

Wie mittlerweile schon mehrfach im Wortsinne erfahren, bringt uns der französische TGV schnell und sicher in die wunderschöne Hafenstadt Marseille, die nach der Beschreibung Joseph Roths aus dem Jahre 1929 »New York und Singapur, Hamburg und Kalkutta, Alexandria und Port Arthur, San Francisco und Odessa« gleichermaßen in sich vereint.

Wie bei Oscar Wilde findet sich im Reisegepäck der Landfahrer natürlich auch das hier nachzulesende elektronische Logbuch: »Ich reise nie ohne mein Tagebuch. Man sollte im Zug immer etwas Spannendes zu lesen haben.«

So führt die Fahrt durch die idyllischen Flusstäler Frankreichs auf schnellstem Weg ins Herz der pulsierenden kosmopolitischen Metropole, dem Kopfbahnhof »Marseille-Saint-Charles«, dessen Version 1.0 im Januar 1848 eröffnet wurde und der nach nur wenigen Updates und Jahren später dann auch in in seiner heutigen Version 2.0 fertiggestellt wurde.

Plage de la Plage

An welche der zehn Plagen dachte Gott wohl, als sie den Strand erschuf? Nach einem ausgiebigen Frühstück gibt es für die meereshungrige Sächsin kein Halten mehr: Es geht mit dem Bus direkt zum »Plage de Bonneveine«. Hat doch der Besitzer eines ständigen Nazi-Angriffen ausgesetzten jüdischen Restaurants in Karl-Marx-Stadt bereits treffend bemerkt, dass das Einzige, was Chemnitz fehlt das Meer sei und es, wenn die DDR den Sachsen nur einen Zugang zum Meer gebaut hätte, es diesen Staat noch heute gäbe und die Nazis sich weniger häufig auf die Straße trauten.

So begrüßt der auf seine keltische Gefährtin wartende Adonis die ewig zwischen Kelten und Germanen wandernde Sächsin und erfreut sich an ihrer seefrauischen Gewandtheit im salzigen Wasser der Bucht.

Den männlichen Begleiter erinnert das alles an Jürgen Zeltingers »Sommer, Sonne, Herzinfarkt« und er begibt sich nur kurz ins kühlende Nass, um der Langeweile der im Hotel vergessenen Lektüre zu entfliehen.

Über Dächern

Von den Niederungen des Vieux-Port führt uns der Weg zur höchsten Erhebung Marseilles, der »Basilika Notre-Dame de la Garde«. Von dort haben wir einen weitreichenden und beeindruckenden Blick auf das Häusermeer der zu unseren Füßen liegenden Stadt, steingewordene Verlängerung der Wogen der Bucht, die sich an den Berghängen zu teilweise schwindelerregenden Wohnsilos auftürmen.

Auf dem Weg zur Anhöhe können wir nicht ohne Einkauf an der ältesten Bäckerei Marseilles vorbeigehen und haben uns mit einem ganzen Dutzend der nach streng gehütetem Geheimrezept gebackenen »Navettes« eingedeckt. Schließlich werden diesem leckeren Gebäck insbesondere wegen des enthaltenen Orangenblütenextrakts auch allerlei gesundheitsfördernde Eigenschaften zugeschrieben.

Das Abendessen im »Le Bistro des Dames« wurde von zweierlei fermentierten aber alkoholfreien Aperitifs in einer kleinen Bierbar eingeläutet, die allen Verfechtern des »deutschen Reinheitsgebots« die Zornesröte ins Gesicht treiben dürfte: Eine belgische »Fruitesse«, gebraut aus roten Beeren und Getreide, mit einem deutlich an Fruchtbonbons erinnerenden Geschmack und ein estländisches »Tundra«-Bier, gebraut nach IPA-Art aus Getreide, Zitronenschalen und Baumharz. So eingestimmt stand einem exquisiten Abendessen, zubereitet aus frisch aus der Bucht kommenden Zutaten, nichts mehr im Wege: Zweierlei Muscheln, gefolgt von Tintenfisch mit Fenchel-Kompott und einem geteilten Traum eines warmen Schokoladenkuchens. Zu diesem Essen finden sich ein paar Impressionen in der Bildergalerie.

In der Calanques

Zweiter Anlauf eines Besuchs im Nationalpark Calanques, nachdem dieser beim letzten Ausflug nach Marseille dank völlig deplatziertem Schuhwerk gleich bei den ersten Gehversuchen abgebrochen werden musste. Diesmal fand sich festes Schuhwerk im Gepäck und die Meerfrau bestand zusätzlich auf dem Einpacken einer Badehose.

Die Fahrt zum Ausgangspunkt der Wanderroute mit dem Stadtbus gestaltete sich problemlos. Allerdings haben wir nach dem ersten Anstieg die Abzweigung auf den richtigen Geröllweg verpasst und landeten stattdessen nach konzentrationsforderndem Abstieg an einem kleinen Badestrand, was wahrscheinlich der mitgeführten Badehose zu verdanken war. Wie dem auch sei: Dieser kleine Umweg sorgte lediglich für weitere 270 Höhenmeter, die es auf der Tagestour ungeplant und zusätzlich zu bewältigen galt, was aber dem Genuss der einzigartigen Landschaft der Calanques keinen Abbruch tat.

Nach Entfernung der körpereigenen aber auch der sanften Meeresbrise geschuldeten und eigentlich einem Loup de Mer vorbehaltenen Salzkruste, ging es auf schnellstem Weg zum einfachen Abendessen: Moules Frites im Bistro und danach ein leckeres Eis »auf die Hand«.

Les Poissons

Anders als im letzten Jahrhundert überlagert sich auf dem heutigen Fischmarkt Marseilles touristische Neugierde mit Küchenvorbereitungsgeschäftigkeit der Restaurants und heimischer Küchen. So hat der Fischmarkt seinen von Joseph Roth beschriebenen Charme zwar geändert aber nicht eingebüßt, auch wenn der Fischfang augenscheinlich der älteren Generation vorbehalten bleibt: »Muscheln liegen neben den Auslagen der Brillantenhändler. Der Flickschuster verkauft korsische Messer. Der Ansichtskartenhändler bietet Schlangengift feil. Das Leben tanzt auf der Klinge eines Rasiermessers, das im Hafen als Waffe beliebt ist. Das Elend ist tief wie das Meer, das Laster ist frei wie die Wolke.« Die Jungen und Junggeblieben tanzen lieber auf Messers Schneide oder genießen die Freiheit der Wolken.

Rotfleischig wird zwar nur mehr Thunfisch und kein Seehund angeboten aber das grimmige Antlitz des Seeteufels erinnert doch an Walter Benjamin, der den Vieux-Port als »gelbes, angestocktes Seehundsgebiss, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt« beschrieb.

La Quarantine

1821 wurden die Frioul-Inseln zur Quarantänestation für das damals unbekannte und grassierende Gelbfieber. Wir erhalten zwar anstandslos eine Rückfahrkarte, werden uns aber überraschen lassen, ob die Rückfahrt auch tatsächlich für den gleichen Tag gilt oder wir herausfinden dürfen, ob die französische Regierung dieses Mal mehr als nur eine (!) Krankenpflegerin zur Versorgung der Pandemie-Isolierten abgestellt hat.

Ohne mitgeführte Badebekleidung und angesichts von zahlreichen Booten gut besuchter Buchten hält sich der Außenwasserdurst der Meerfrau in Grenzen und wir begeben uns nach kurzer sonniger Wanderung auf »Pomègues« über den alles verbindenden »Digue Perry« zurück zum Hafen auf »Ratonneau«, wo uns tatsächlich eine bereits wartende und abfahrbereite Fähre ganz ohne Test und Zertifikat aufnimmt und zurück in die Stadt bringt.

Le Pastis

Dem kulinarischen Forschungsdrang folgend führt uns der Weg vom Navette zu den »Navettes« ins »Panier«, nicht ohne noch ein bzw. zwei Kugeln Eis als Wegzehrung mitzunehmen, die aber nach fachfraulicher Einschätzung gegenüber dem am Vortag genossenen Eis deutlich abfielen.

Das Ergebnis der sofortigen und akribischen Untersuchung der »Navettes« noch direkt vor dem „Les Navettes des Accoules“ ergab dagegen, dass sich die Geheimrezepte beider Navettes-Bäckereien in Marseille in Punkto exquisitem Geschmack nichts schenken.

Weiter ging es zum »Maison Janot«, wo es aber nur einen einzelnen Pastis rein gegen den Durst gab (und den auch nur für eine Person!), also deutlich zu wenig, wenn mensch Izzos Ausführungen in der „Marseille-Trilogie“ folgt: »Den ersten trinkst Du gegen den Durst. Beim Zweiten kommst Du langsam auf den Geschmack. Und der Dritte schließlich schmeckt!«

La Plaine

Nach dem Entsalzen ging es zum Abendessen in die Niederungen des »Cours Julien«, in die Straße der hier alles andere als heiligen drei Könige, auch wenn am Eingang der Straße auf Engel hingewiesen wird.

Im Haus Nummer 15 findet sich das kleine aber äußerst feine Restaurant »Le Quinze«, dessen baldiger Besuch dringendst zu empfehlen ist, weil leider niemand sagen kann, wie lange das Team aus der deutlich in die Jahre gekommenen Frau des Hauses und ihrem nur unwesentlich jüngeren Sohn Patrice das Lokal noch mit der ihnen eigenen Hingabe führen können.

Zum leckeren Menü aus Crevetten-Lauch-Crumble bzw. Rindercarpaccio mit von der »Oma« selbst und frisch gebackenen Brötchen, Schmortopf vom Pulpo und einem von der Inhaberin nachdrücklich empfohlenen Tiramisu bzw. warmem Schokoladenkuchen, begleitet von einem passenden Weißwein aus Aix-en-Provence, finden sich ein paar visuelle Impressionen in der Bildergalerie.

La Dérive

Ob nun schwäbisch motiviert (Ausnutzen der Fahrkarte) oder altersgerechtes weiträumiges Umherschweifen (eiliger Durchgang durch abwechslungsreiche Umgebungen), nach dem Eintauchen ins algerische Viertel folgt die Fahrt mit der Tram, den unsichtbaren Linien psychogeographischer Strömungen der Stadt folgend.

So landen wir beim »Palais Longchamp«, einem ursprünglich zur Feier der Ankunft des Wassers in Marseille bereits 1847 geplanten Prunkbaus, dessen Errichtung sich aber, dem Revolutionseifer und der nachfolgenden Bürokratie geschuldet, deutlich verzögerte. Die Einweihung erfolgte so erst im Jahr 1869 (Stuttgart 21 lässt grüßen). An den 1987 geschlossenen Tiergarten erinnern noch heute die beengten Unterkünfte des dort zur Schau gestellten Großgetiers.

Weiter geht es mit der T2 und wir treffen auf die »Passage de Lorette« wo Walter Benjamin die Arbeit an seinem Buch »Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« vollendete. Der Fußweg führt uns dann erneut ins Panier und, materiell deutlich besser ausgestattet als der damalige Exilant, ins »Aux vieux Panier« zu einer vorzüglichen Auswahl an Käse, Schinken, Garnelen und Meeresschnecken.

La plage tué

Nachdem wir am Vorabend einen in Salzkruste zubereiteten Loup de Mer verspeist haben, holen wir uns heute, an dem für dieses Mal letzten Tag in Marseille, nochmals unsere eigene Salzkruste am städtischen Strand. Der Besuch im Wasser selbst fällt aber wegen zu viel Wind bzw. zu vieler Menschen aus.

So geht es nach gemütlicher Liegestuhlruhe nochmals zum »Cours Julien«, wo aber praktisch alle kleinen Läden ferienbedingt geschlossen haben. Immerhin hat der »Rosa Elefant« geöffnet, so dass es wenigstens ein lecker-hausgemachtes Eis auf die Hand gibt.

Das Abendessen gibt es im neu von einem Koch, der das regionale Handwerk versteht, übernommene Hotelrestaurant, das sich auch regem Zuspruch lokaler Gourmets erfreut und bis auf den letzten Tisch ausgebucht war. Fischsuppe, Schwein bzw. Pulpo aus Marseille und ein Hauch von Ziegenmilch-Honigschaum waren ein angemessenes Abschlussessen für unseren diesjährigen Besuch.

Au revoir!

Am nächsten Morgen heißt es früh aufzustehen, damit vor der Rückfahrt noch etwas Zeit für ein Frühstück und einen letzten Blick auf die Stadt bleibt, bevor uns der Bahnhof mit dem dort auf uns wartenden TGV nach Mannheim einsaugt.